Sie arbeitete als Führungskraft in verschiedenen Unternehmen. Manchmal versetzte sie Berge, manchmal kam sie zu nichts. Wie war das möglich? Es faszinierte sie. Daniëlle Hellebrand (53) aus Vaals kündigte ihren Job und ist in die Welt unserer Gehirne eingetaucht. Ihr wichtigstes Fazit: Anspannung und Stress machen uns nicht schlauer.
“Das ‘Rattenrennen’, in dem wir leben, beeinflusst unser Gehirn. Es bleibt wenig Zeit, in Ruhe nachzudenken und das tut dem Gehirn nicht gut. Die Wahrscheinlichkeit steigt, dass wir falsche Entscheidungen treffen” Daniëlle Hellebrand erforschte während ihres Masterstudiums der kognitiven Neurowissenschaften an den Universitäten von Chicago und Köln die Funktionsweise unseres Gehirns. Was geht im Inneren vor sich?
Menschen sind den ganzen Tag “on”. Im Allgemeinen schaffen wir es, uns recht gut anzupassen. Die Corona-Krise ist ein gutes Beispiel dafür. Aber es gibt eine Grenze, sagt Hellebrand. “Unser Gehirne hat nur eine bestimmte Bandbreite. Es kann nicht unendlich viele Informationen gleichzeitig aufnehmen. Also müssen wir anfangen zu selektieren.”
Atmosphäre
Stress helfe da ohnehin nicht weiter, betont sie. “Sehen Sie sich Ihre Arbeit an. Wann beginnt der Stress? Wenn es an sozialer Interaktion mangelt: kein nettes Team, keine angenehme Atmosphäre, Misstrauen. Der größte Schmerz, aber auch die größte Freude, die wir empfinden, haben mit Beziehungen zu tun.”
Es ist also extrem wichtig, so Hellebrand, dass die Kollegen füreinander einstehen, sich gegenseitig respektieren und schätzen. “Und die Arbeit muss sinnvoll sein. Andernfalls wird Stress erzeugt, der uns unfähig macht, richtig zu denken. Wir gehen auf Autopilot. Dann kann ich vielleicht diesen einen Artikel schreiben, schaffe es aber nicht mehr, mir eine ganz neue Wirtschaftsbeilage auszudenken. Innovation bleiben dann auf der Strecke. Dafür bräucht ich dann ein ganzes Team; die Welt ist zu komplex, um es alleine zu schaffen.”
“Führungskräfte sollten ihr Ego ein wenig mehr zurückstellen”
Ego
Firmen sollten sich dessen bewusst sein. Laut Daniëlle Hellebrand sollten Manager mehr moderieren und “ihr Ego ein bisschen beiseite legen.” Ein Mitarbeiter verliert wirklich keinen Schlaf über die Qualität des Kaffees am Arbeitsplatz, noch über einen Laptop, der vielleicht ein bisschen veraltet ist. Ihre Forschung zeigt, dass der Stress aus dem sozialen Bereich kommt und zum Teil durch einen Mangel an Kommunikation verursacht wird. Es ist das Fehlen einer Atmosphäre, in der sich Menschen trauen zu sagen, was sie wollen, ohne dafür verurteilt zu werden.
Arbeitsstress
1,3 Millionen niederländische Arbeitnehmer hatten im Jahr 2019 Burnout-Symptome. Die Kosten für Fehlzeiten, die auf Arbeitsstress zurückzuführen sind, sind auf 3,1 Milliarden Euro pro Jahr gestiegen.
46 Prozent der Arbeitgeber geben an, dass Arbeitsstress ein wichtiges Risiko im Unternehmen ist und 35 Prozent der Arbeitnehmer geben Arbeitsdruck/Arbeitsstress als Grund für Fehlzeiten an.
Arbeitgeber versuchen, Maßnahmen zur Stressprävention zu ergreifen. Die häufigste Maßnahme ist, den Mitarbeitern mehr Autonomie bei der Gestaltung ihrer eigenen Arbeit zu geben.
Mitarbeiter denken oft, dass diese Maßnahmen nicht ausreichen. 44 Prozent sind der Meinung, dass zusätzliche Maßnahmen erforderlich sind.
Durch die Corona-Krise gingen Arbeitsplätze verloren und viele Menschen arbeiteten zu Hause. Trotzdem blieb die Zahl der Burnout-Beschwerden in der ersten Welle in etwa gleich: 17 Prozent.
“Wenn Sie Ihren Urlaub zur Erholung brauchen, dauert es genau einen Tag, bis das erholte Gefühl wieder verschwunden ist”
Hellebrand kritisiert die Bonuskultur. “In dieser Atmosphäre ist jeder auf sich allein gestellt und man möchte seine Erkenntnisse und neuen Einsichten eigentlich nicht teilen. Das bringt Sie als Unternehmen am Ende nicht weiter. Wissen zu teilen, macht einen tatsächlich stärker.”
Zahnfleisch
Nicht wenige Menschen erliegen diesem Stress. Die Zahl der Menschen, die unter Burnout oder Depressionen leiden, ist weitaus größer als die derer mit körperlichen Beschwerden. “All diese Menschen werden bald arbeiten müssen, bis sie 67 oder älter sind. Das wollen Sie doch nicht mit letzter Kraft auf dem Zahnfleisch machen, oder? Hellebrand malt ein Bild des Grauens. “Wenn Sie einen Urlaub brauchen, um sich ein wenig zu erholen, dauert es genau einen Tag, bis Sie sich wieder ausgeruht fühlen. In einem solchen Rattenrennen können Sie nicht mehr denken, Ihr Gehirn ist mit dem Überleben beschäftigt und Ihre soziale Komponente ist ausgeschaltet. Ihr IQ sinkt um zehn bis fünfzehn Punkte, und dann müssen Sie demnächst ja auch arbeiten, bis Sie 68 sind!”
Wir sollten aufhören, Dinge zu tun, die gegen die menschliche Natur verstoßen, argumentiert Hellebrand. Sie hält nichts von der jährlichen Leistungsbeurteilung. “Das kostet sechs Tage Denkkraft. Drei Tage vor dem Leistungsgespräch fragen Sie sich, ob Sie den Bonus bekommen, am Tag darauf erfahren Sie, dass Sie im März etwas falsch gemacht haben. Dann müssen Sie sich drei Tage lang erholen. Niemand fragt Sie, was Sie im vergangenen Jahr eigentlich gelernt haben.”
Da Veränderung und Erneuerung nur von allen erreicht werden kann, ist es sinnlos, nur die Führungskräfte auf Schulungen zu schicken. Wenn die zurückkehren, weiß die Belegschaft nicht, was die Absicht ist, also ändert sich nichts. Deshalb muss man auch Teams auf Schulungen schicken. Dann weiß jeder, welchen Weg das Unternehmen gehen will.
Boss
Wir müssen uns auch von dem “Ich, der allwissende Chef” befreien, der vorgibt.
“Ich sehe sehr selbstständige und verantwortungsbewusste Menschen in Firmen, die Häuser bauen und Kinder großziehen, aber wenn sie ein neues Kabel für ihren Laptop benötigen, müssen sie erst drei Antragsformulare ausfüllen. Das sollte aufhören.”
Hellebrand nutzt ihr Wissen, um Kolumnen zu schreiben, Vorträge zu halten und Menschen zu coachen. Sie nutzt die neuesten Erkenntnisse der Neurowissenschaften, um Menschen helfen zu können, in ihrem Beruf und Privatleben weiterzukommen. “Letztlich bestimmt die Qualität unserer Beziehungen die Qualität unseres Lebens. Und damit meine ich nicht die 500 Freunde auf Facebook. Am Ende des Lebens blickt niemand mit Zufriedenheit auf vierzig Jahre tolle Meetings zurück. Nein, wir blicken zurück auf die Menschen, mit denen wir die ganze Zeit über eine gute Beziehung hatte.”
Das Interview führte Monique Evers